Einführung in die Installation von Maria-Anna Bäuml-Roßnagl
in der Kapelle der Universität Regensburg
von Prof. Dr. Sigmund Bonk
Erlauben Sie mir bitte, mit einer persönlichen Bemerkung zu beginnen. Einer späten Heirat geschuldet, bin ich derzeit – trotzt des offensichtlich fortgeschrittenen Alters – Vater zweier Teenager. Das ist aufregend, nicht immer leicht, aber ich versuche, das Beste daraus zu machen, indem ich mir sage: Beginnen wir alle zu lernen: Meine Kinder von mir ein wenig Ordnungsliebe, Pflichtbewusstsein und Verantwortungsgefühl, ich von ihnen Leichtigkeit, Spielfreude und Unbekümmertheit.
Dieses Thema treibt mich derzeit ziemlich um. Und als ich die Fotos von diesem Raum sah, die Installation betrachtete, dachte ich mir: Heureka! Da ist es ja – das ist die gelungene, ja perfekte Kombination von adultem Verantwortungsbewusstsein und juveniler phantasievoller Leichtigkeit!
Eine renommierte Universitätsprofessorin, die tausende Studierende unterrichtet und ausgebildet und damit jahrzehntelang große Verantwortung getragen hat, konnte sich viel Kindliches in sich bewahren, das sie in ihren Kunstwerken – zur Freude vieler Menschen – auch zum schöpferischen Ausdruck zu bringen vermochte: Alle Achtung!
Mir ist Frau Maria-Anna Bäuml-Roßnagel auch als veritable Philosophin bekannt – Ferdinand Ulrich ist unser beider Lehrer gewesen – so dass ich hoffen darf, ihr mit dem folgendem Zitat eine kleine Freude machen zu können… Es stammt von dem Altmeister des Deutschen Idealismus Georg Wilhelm Friedrich Hegel, ist sehr schön (wie ich finde, auch sehr tief) und lautet (ich zitiere aus Hegel »Phänomenologie des Geistes« von 1807):
»Die Knospe verschwindet in dem Hervorbrechen der Blüte, und man könnte sagen, dass jene von dieser widerlegt wird; ebenso wird durch die Frucht die Blüte für ein falsches Dasein der Pflanze erklärt, und als ihre Wahrheit tritt jene an die Stelle von dieser. Diese Formen unterscheiden sich nicht nur, sondern verdrängen sich auch als unverträglich miteinander. Aber ihre flüssige Natur macht sie zugleich zu Momenten der organischen Einheit, worin sie sich nicht nur widerstreiten, sondern eins so notwendig wie das andere ist; und diese gleiche Notwendigkeit macht erst das Leben des Ganzen aus.«
G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geists, hg. von Johannes Hoffmeister, Hamburg: Meiner 1952 (6. Aufl.), S.19.
Für Hegel ist die Knospe bzw. die Kindheit somit ein Moment an der Existenz des gelungenen Erwachsenendaseins. Aber das ist nicht alles, was er dazu sagt. Dialektisch zur Bewahrung der Kindheit verhält sich auch deren ebenso wichtige Verdrängung. Der Mensch muss wirklich erwachsen werden, darf nicht kindisch bleiben. Beides, das Kind und der Erwachsene haben ihr gutes Recht und beides, somit auch der Widerstreit, ist für das gelingende Menschsein gleich notwendig. Daraus folgt: Auch die Kindheit, das Kind-Sein-Können, hat ihren und seinen Wert – ein Wert, der es sozusagen (wenn man mir das kleine Wortspiel gestatten möchte) wert ist, erhalten und ins Erwachsenenalter hinüber gerettet zu werden. Insbesondere Künstlerinnen und Künstler scheinen sich mir Kindheit bewahrt zu haben, wovon wir uns ja hier und heute auch selbst vergewissern können.
Künstler sind auch Personen, welche die Doppelnatur des Menschen, nämlich sowohl Natur- als auch Kulturwesen zu sein, besonders deutlich zum Ausdruck bringen, denn: Die Maus wird gleich von Natur aus zu dem, was sie ist. Nicht so der Mensch. Im Vollsinn des Wortes ist er erst dann Mensch, wenn Natur und Kultur in ihm eine echte Einheit gebildet haben. Diese Einheit zeichnet sich ab, wenn der Mensch als Kind zu sprechen gelernt hat. Spracherwerb setzt aber eine Kulturgemeinschaft voraus. Erst durch Kultur wird der Mensch ganz zum Menschen. Erst der sprechende Mensch ist der König oder die Königin der Schöpfung. Souverän bringt er oder sie die Wesen oder Naturen der Dinge „ins Wort“. In einem Wort wie „Mensch“ – ganz zu schweigen von dem Wort „Gott“ – ist mehr Sinn und Bedeutung zusammengefasst als sich nachher ausbuchstabieren lässt. Es ist, als habe die ganze Natur von Beginn an auf den magischen Wortgeber „Mensch“ gewartet, als habe sie sich danach gesehnt, ins Wort gebracht und damit mit Sinn verbunden zu werden. Ohne die „Verwortung“ lastet der fehlende Sinn auf der Wirklichkeit. Die Sinnleere belässt zudem alle Dinge in ihrer schrecklichen Einsamkeit.
Gottfried Benn hatte das richtige Gespür für die gewaltige Tat des Menschen, der die Natur und sich selbst ins Wort setzt und damit eine Sinn-Gemeinschaft stiftet, wenn er (Benn) schreibt (ich zitiere sein Gedicht mit dem Titel »Ein Wort«):
Ein Wort, ein Satz -: aus Chiffren steigen
erkanntes Leben, jäher Sinn,
die Sonne steht, die Sphären schweigen,
und alles ballt sich zu ihm hin.
Ein Wort – ein Glanz, ein Flug, ein Feuer,
ein Flammenwurf, ein Sternenstrich -
und wieder Dunkel, ungeheuer,
im leeren Raum um Welt und Ich.
Welches Wunder, welche Erfüllung ist doch der Mensch, der spricht! Und wie kalt, tot und leer wäre eine Welt ohne den Menschen und seine Sprache bzw. Sinngebung…
Und so ist der Mensch einerseits ein mächtiger (Wort-)Zauberer, ein kosmisches Wesen der Erfüllung – und andererseits doch auch ein kosmischer Zwerg: Ein kalter Windhauch reicht hin, seine Lunge zu entzünden und den mickrigen Schwächling zu töten. Genauso fragil wie das Wort, das er spricht, ist er nämlich auch selbst. Die von ihm gestiftete Sinngemeinschaft kann über Nacht, etwa von einem Meteoriten oder von einigen Atombomben für immer zerstört werden. Aber noch ist die vom Medium der Sprache getragene Sinngemeinschaft da, und wir können zu ihr beitragen und uns an ihr erfreuen.
Entwickelt hat sie sich an den blauen Lebensadern der Natur bzw. der Erde: an Euphrat, Tigris, Nil, Yangtze, Mekong und Ganges. Die frühen Hochkulturen haben dann Flussbiegungen und -schleifen in Schriftzeichen transponiert: flüchtige Zeichen von fragilen Menschen, gehalten in Blau und vom Blau des Flusses sowie des freundlichen Himmels darüber.
Christen sind allerdings überzeugt davon, dass der allergrößte unter vielen großen Texten an einem kleinen Fluss entstanden ist, dem Jordan, genauer zwischen Jordan und dem See Genezareth. Die Rede ist selbstverständlich von der Bergpredigt. Die »oratio montana« wird auch »Rede der Reden« genannt – und dies mit großem Recht. Weder zuvor noch danach ist eine alles Herkommen radikaler umstürzende Rede gehalten worden. Unvorstellbare Sanftmut und gewaltigste Kraft durchdringen sich und eine Hoffnung über alle bisherige Hoffnung hinaus tut sich auf. Bis heute fährt einem diese Rede wie brennend unter die Haut. Lassen Sie mich deren Anfang kurz vorlesen, ist er doch gewissermaßen das Wasser, die Quelle, aus der sich unsere wundervolle Ausstellung speist:
Als Jesus die vielen Menschen sah, stieg er auf einen Berg.
Er setzte sich und seine Jünger traten zu ihm.
Und er öffnete seinen Mund, lehrte sie und sprach:
»Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich.
Selig, die Trauernden; denn sie werden getröstet werden.
Selig, die Sanftmütigen; denn sie werden das Land erben.
Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden gesättigt werden.
Selig die Barmherzigen; denn sie werden Erbarmen finden.
Selig, die rein sind im Herzen; denn sie werden Gott schauen.
Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Kinder Gottes genannt werden.
Selig, die verfolgt werden um der Gerechtigkeit willen; denn ihnen gehört das Himmelreich.
Selig seid ihr, wenn man euch schmäht und verfolgt
und alles Böse über euch redet um meinetwillen.
Freut euch und jubelt: Denn euer Lohn wird groß sein im Himmel.
So wurden nämlich schon vor euch die Propheten verfolgt.
Ihr seid das Salz der Erde […] ihr seid das Licht der Welt.«(aus: Mt 5)
Wollen wir selbst ein wenig mehr Salz und Licht werden, so sollten wir das Geschenk dieses Kunstprojekts annehmen, uns Zeit nehmen, und uns einlassen auf das, was hier zu sehen, zu erfahren und auch zu lernen ist. Identifizieren wir uns mit dem blauen Fragezeichen und spüren wir offenen Sinnes und Herzens derjenigen Sinngemeinschaft nach, die hier Form und Farbe geworden ist – und nicht zuletzt auch Wort. Und verwundern wir uns vielleicht auch ein wenig darüber, wie innerlich nahe ein erklärter Nietzscheaner und Gegner des Christentums wie Gottfried Benn mit seinem Gedicht „Das Wort“ dem Prolog des Johannes-Evangeliums steht: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott.“
Verwundern wir uns und bewundern wir heute aber auch, wie ungewöhnlich, faszinierend, verantwortungsvoll und spielerisch-leicht zugleich die wechselseitige Verwiesenheit von Wort, Mensch und Gott uns hier, in diesem Kapellenraum, nahe gebracht wird. Frau Bäuml-Roßnagl hat nämlich erkannt, dass das Wenige, dem echte Ewigkeitsbedeutung zukommt, entgegen dem ersten Vermuten, nicht mit Schwere und lastender Wucht behaftet ist, sondern sich durch Jugendlichkeit und Leichtigkeit auszeichnet. Das wirklich Bleibende, wie eben die Bergpredigt, ist auch nie das Fertige und Abgeschlossene, sondern stellt einen immerwährenden Anfang und Neubeginn dar. Ebenso wie die Bergpredigt bedeutet auch die conditio humana einen solchen »ewigen Anfang«. Die damit verbundenen Schwierigkeiten und Schwächen werden in diesem Raum ebenso spürbar wie der dem Anfang eigene »Zauber« (Rilke).
Dafür möchte ich jetzt »Danke« sagen: der Künstlerin zuerst aber auch allen Zuhörerinnen und Zuhörern für viel freundliche Geduld…